Pressemitteilung vom 14.12.2023Leere Lehrstellen: Fachkräftemangel trifft Handwerk hart
Studie der Handwerkskammer zeigt: Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse der Azubis haben sich in den vergangenen zehn Jahren stark verschlechtert.
Aachen. Die Handwerksbetriebe in der Region stehen vor einem wachsenden Problem: In immer mehr Unternehmen bleiben Ausbildungsstellen unbesetzt, da die geeigneten Bewerberinnen und Bewerber fehlen. In einer neuen Studie der Handwerkskammer Aachen gaben dies 33 Prozent der ausbildungswilligen Betriebe als primären Grund an, warum sie derzeit keine Auszubildenden beschäftigen. „Das ist die direkte Folge einer über Jahrzehnte verfehlten Bildungspolitik, die Abitur und das anschließende Studium zum gesellschaftlichen Standard erklärt hat. Dabei bieten sowohl die akademische als auch die berufliche Bildung hervorragende Karrierechancen, und gerade das Handwerk wird auch in Zeiten von Künstlicher Intelligenz unersetzbar sein“, betonte Georg Stoffels, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Aachen, bei der Präsentation der Ergebnisse. Besonders betroffen vom Azubimangel sind das Nahrungsmittelgewerbe, die Kfz-Branche, das Bauhauptgewerbe und der Gesundheitssektor, wo überdurchschnittlich viele Betriebe von fehlenden Bewerbungen berichteten. An der Befragung „Ausbildungslücke im regionalen Handwerk“ beteiligten sich 880 Betriebe aus dem gesamten Kammerbezirk, wodurch die Studie ein sehr realitätsnahes Bild der Ausbildungssituation zeichnet.
Der Fachkräftemangel macht sich zudem in einem weiteren Bereich bemerkbar: Eine fast ebenso große Anzahl von Unternehmen hat Schwierigkeiten, Ausbildungsplätze zu besetzen, da qualifiziertes Ausbildungspersonal fehlt. Die hohen Kosten, die mit der Ausbildung einhergehen (12 Prozent), sowie die unsichere wirtschaftliche Lage (knapp 11 Prozent) wurden als zusätzliche Faktoren genannt, die einige Betriebe dazu veranlasst hätten, sich von der Ausbildung der nächsten Generation zurückzuziehen.
Handwerksbetriebe investieren in Azubimarketing
Aufgrund der vielfältigen Problemstellungen konnten rund 70 Prozent der grundsätzlich ausbildungsbereiten Handwerksbetriebe nicht alle ursprünglich geplanten Azubistellen besetzen. Um dieser zunehmenden „Azubilosigkeit“ entgegenzutreten, investieren die Betriebe mehr Zeit und Geld als jemals zuvor in das Azubimarketing. Ganz oben auf der Agenda stehen dabei Berufsorientierungsangebote wie Praktika, Ferienjobs, Schul-Kooperationen oder Tage der offenen Tür (52 Prozent). Darüber hinaus wurden die Aktivitäten auf Social Media oder auf Lehrstellenbörsen von knapp einem Drittel ausgeweitet. Selbst kleinere Handwerksbetriebe beschäftigen sich mit der Thematik Employer Branding, um sich als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren, oder statten die Azubis mit Handys/Tablets aus beziehungsweise verteilen zusätzlich zum Ausbildungsgehalt Tankgutscheine. Außerdem ist die Übernahmeperspektive nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung längst zum Standard geworden. „Wer neue Wege geht und die Jugendlichen zielgruppengerecht anspricht, wird auch in diesem Arbeitnehmermarkt Erfolg haben. Aber die Azubigewinnung ist deutlich aufwändiger als noch vor fünf oder zehn Jahren geworden“, so Stoffels. Außerdem zeigt die Untersuchung einmal mehr: Das Handwerk ist der Motor der Integration. Inzwischen haben knapp elf Prozent der Azubis einen ausländischen Pass, wovon die meisten aus Syrien, Afghanistan und Irak kommen. Um die Jugendlichen besser in den Arbeits- und Lebensalltag zu integrieren, fördern knapp 13 Prozent der Ausbildungsbetriebe Sprachkurse.
Schulisches Leistungsniveau deutlich gesunken
Ein weiteres Ergebnis der Studie: Das schulische Leistungsniveau der Auszubildenden hat sich in den vergangenen zehn Jahren nach Aussage der Ausbildungsmeister merklich verschlechtert. 37,5 Prozent sahen im vergangenen Jahrzehnt eine starke Verschlechterung und weitere 42 Prozent eine Verschlechterung der Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse. Nur knapp zehn Prozent gaben ein konstantes Niveau zu Protokoll und quasi niemand eine Verbesserung. Gut zehn Prozent machten keine Angaben. „Diese Ergebnisse decken sich in erschreckender Art und Weise mit der aktuellen Pisa-Studie. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Migrationszahlen und der damit oftmals einhergehenden Sprachbarrieren muss die Schule wieder einen Schwerpunkt auf die Vermittlung von Grundfertigkeiten und damit auf die Vorbereitung auf das Leben legen“, unterstrich Stoffels deckungsgleich mit den Umfrageteilnehmern. Denn auch dort plädierten knapp 62 Prozent für bessere Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse der Ausbildungsinteressenten sowie 58 Prozent für eine höhere Qualität an den Berufsschulen unter anderem durch die Neueinstellung von Lehrkräften. Knapp 44 Prozent sprachen sich für eine bessere Lernkooperation zwischen Betrieben, Berufsschulen und der überbetrieblichen Lehrlingsunterweisung aus (Mehrfachnennung war hier möglich).
Betriebe fordern Wiedereinführung von Werkunterricht
Daneben plädierten die Handwerksbetriebe in der Städteregion Aachen sowie den Landkreisen Düren, Euskirchen und Heinsberg für ein Maßnahmenbündel, um das Interesse an einer dualen Ausbildung unter den Jugendlichen wieder zu steigern. Ganz oben auf der Agenda stand dabei eine bessere Berufsorientierung an allen Schulen und damit auch an den Gymnasien (71 Prozent), gefolgt von der Wiedereinführung des Werkunterrichts an allgemeinbildenden Schulen (56 Prozent). „Das ist auch eine zentrale Forderung der sieben NRW-Handwerkskammern und des Westdeutschen Handwerkskammertages. Inzwischen stehen wir dazu mit den Landtagsfraktionen in einem konstruktiven Austausch und sehen hier erste positive Entwicklungen“, erläuterte Stoffels und verwies auf das Gymnasium Würselen, wo es seit einiger Zeit das Schulfach „Fit for Life“ gibt. Bei dem von Schülern, Eltern und Lehrern initiierten Projekt lernen Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse durch Unterstützung externer Partner Kochen, Putzen, Werken und das Wichtigste zur Verbraucherbildung. Kurzum: Sie werden auf das reale Leben nach der Schule vorbereitet. Zudem würden nach Überzeugung der Handwerksbetriebe eine bessere Erreichbarkeit der Lernorte durch einen Ausbau des ÖPNV und eine Flexibilisierung des Berufsschulunterrichts beispielsweise durch Distanzunterricht die Attraktivität der Ausbildung erhöhen. „Um Deutschlands Wohlstand zu sichern und die Klimawendeziele zu erreichen, braucht es ein starkes Handwerk und das über Jahrzehnte. Dafür müssen jetzt die richtigen Weichen gestellt werden. Viele der Vorschläge kosten keine Milliarden, aber den Mut für neue Wege“, so Stoffels abschließend.
Neue Wege sind gefragt
Viele der zuvor beschriebenen Maßnahmen hat Elektrotechnikermeister Sven Ohligschläger in seiner Firma in Würselen ergriffen, um mehr Jugendliche für einen Start im Handwerk zu begeistern. Faire Bezahlung mit 13. Monatsgehalt und Inflationsprämie, flache Hierarchien, Möglichkeiten zum Überstundenabbau und die aktive Teilnahme an Ausbildungsmessen: All das ist bei Elektro Ohligschläger seit Jahren Standard. „Unser Ziel ist es, nach der Ausbildung den Auszubildenden zu übernehmen. Selbst ohne Meisterqualifikation sind Projektleitertätigkeiten möglich, bei gleicher Bezahlung“, skizzierte der Sieger des Ausbildungspreises 2022 der Handwerkskammer Aachen bei der Studienvorstellung weitere Anreize für den Handwerkernachwuchs. Zudem unterhält das Familienunternehmen eine eigene Lehrwerkstatt, in der die Mitarbeitenden neue Techniken und Gerätschaften ausprobieren können, bis hin zur Programmierung einer Steueranlage. „Denn auch diese Einstellungen gehören längst zum Angebotsspektrum der Handwerksbetriebe – nur wissen das viele Kunden noch gar nicht“, so Ohligschläger.
Fakten zum Ausbildungsmarkt
Bis Ende November wurden 2.066 Ausbildungsverträge in diesem Jahr neu abgeschlossen. Dies bedeutet im Vergleich zum Vorjahresmonat ein Minus von 4,7 Prozent. Noch immer sind hunderte Ausbildungsstellen für dieses Jahr unbesetzt und Jugendliche haben weiterhin die Möglichkeit, in eine Ausbildung zu starten. Denn im Handwerk ist jeder der 365 Kalendertage der potenziell erste Ausbildungstag. Längst laufen zudem die Bewerbungsphasen für das Ausbildungsjahr 2024/25. Interessierte finden Informationen unter www.hwk-aachen.de/ausbildung. Von den 17.500 Mitgliedsbetrieben der Handwerkskammer Aachen bilden aktuell rund 22 Prozent aus, was dem Bundesdurchschnitt entspricht. Im Mittel beschäftigen die Ausbildungsbetriebe zwei Azubis.
Service für Redaktionen:
- Alle Umfragen der Handwerkskammer Aachen finden Sie hierwww.hwk-aachen.de/umfragen.
- Diese Pressemitteilung können Sie unter www.hwk-aachen.de/pm-azubimangel erreichen.
Als regionale Dachorganisation vertritt die Handwerkskammer Aachen die Interessen von rund 17.500 Handwerksbetrieben mit ihren über 86.000 Angestellten und knapp 5.600 Lehrlingen in der Städteregion Aachen sowie den Kreisen Düren, Euskirchen und Heinsberg. Mit einem Umsatz von circa 9,2 Milliarden Euro ist das Handwerk eine der wirtschaftlichen Stützen im Kammerbezirk.
Downloads
Grafik 1: Warum bilden Sie derzeit nicht aus?
Grafik 2: Konnten alle freien Ausbildungsplätze in diesem Jahr besetzt werden?
Grafik 3: Welche Rahmenbedingungen könnten Ihnen die Besetzung von Ausbildungsplätzen erleichtern?
Grafik 4: Welche der folgenden Punkte würden Ihnen das Ausbilden erleichtern?
Grafik 5: Wie haben sich Ihrer Einschätzung nach in den letzten 10 Jahren die Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse bei Ausbildungsanfängern entwickelt?
Grafik 6: Welche der folgenden Punkte setzt Ihr Betrieb zur Gewinnung von Auszubildenden bereits um?
Pressefoto 1: HGF Georg Stoffels
Pressefoto 2: HGF Georg Stoffels
1. Warum bleiben Lehrstellen unbesetzt?
01: Stoffels-Gruende-Azubimangel_1.aac
2. Besonders betroffene Branchen
02: Stoffels-betroffene-Branchen_1.aac
3. Azubimarketing der Handwerksbetriebe
03: Stoffels-Massnahmen-Betriebe.aac